Max Frisch: Andorra
Theater:Theater Paderborn, Premiere:01.09.2018Regie:Tim Egloff
Foto: Das "Andorra"-Ensemble am Theater Paderborn © Kreft Text:Maike Grabow, am 2. September 2018
Schuldig ist, wer die Tat ausführt, wer verurteilt wird. So rechtfertigen die Bewohner Andorras ihr Verhalten. Dass nicht nur ein Einzelner, sondern eine ganze Gemeinschaft schuldig werden kann, wird in Max Frischs Drama „Andorra“ deutlich. Das Theater Paderborn nahm die aktuelle Entwicklung in Deutschland zum Anlass, um dieses zeitlose Stück in einem zeitlosen Rahmen aufzuführen. Der Regisseur Tim Egloff konzentriert sich ganz auf die Entwicklung der Gemeinschaft und offenbart die Macht der Worte.
Die Andorraner fühlen sich wohl. Sie sind stolz auf den Frieden, die Freiheit und die Menschenrechte in ihrem Land. Überheblich weisen sie darauf hin, anders als die „Schwarzen da drüben“ zu sein. Der Patriotismus geht so weit, dass bei einer Untersuchung die skurrile Amtsärztin (Mona Kloos) nicht nach „Ahhh“ fragt, sondern nach „Andorra“. Das Bühnenbild (Ausstattung: Selina Traun) ist ein weißer Raum, doch der weiße Schein trügt. Die Szenen fokussieren sich ganz auf die Sprache und zeigen so in einer einfachen Inszenierung, was hinter dem Schein steckt. Zunächst waren die Andorraner stolz, als der Lehrer (Alexander Wiß) den jüdischen Jungen Andri (Tim Tölke) bei sich aufnahm und ihn so vor der Ermordung durch die Schwarzen bewahrte. Nun belasten sie ihn mit Vorurteilen, erklären ihm, wie ein Jude zu sein hat, und verdrehen die Realität so, bis er in das Bild passt. Andri übt sich in Zurückhaltung und Anpassung. Kraft gibt ihm seine Verlobte Barblin (Gesa Köhler). Bis diese von dem Soldaten (Carsten Faseler) vergewaltigt wird und Andri denkt, sie würde ihn betrügen. Nach und nach nimmt er die ihm zugeschriebene Rolle des Juden an. Seine eigene Identität geht verloren, weil die Umwelt sich ein Bild von ihm macht. Als dann eine „Schwarze“ nach Andorra kommt, verliert die Gemeinschaft ihren Kopf. Ist Andorra vielleicht doch nicht so sicher? Die Situation eskaliert, die Frau stirbt. Die Schuld wird auf Andri geschoben, der die Rolle des Märtyrers einnimmt, obwohl er gerade erfahren hat, dass er in Wahrheit kein Jude, sondern Andorraner ist. In einem gewaltigen und emotionsgeladenen Monolog des eindrucksvollen Schauspielers zeigt sich, dass er schon zu sehr das geworden ist, was die Leute ihm einredeten. Schuld an seinem Ende möchte keiner haben. Die Figuren des Stückes treten immer wieder als Zeugen vor das Publikum und rechtfertigen ihr Handeln. Nur der Pater (Jacob Keller) gibt zu, sich ein Bildnis von Andri gemacht zu haben.
Nach der Pause gibt es einen stilistischen Bruch. Weg sind die weißen Wände, weg die Illusion. Nun ist es „schwarz“ und die Szenen werden von Angst dominiert. Die Deutschlandfahne wird in schwarz-weißen Abfärbungen aufgehangen. Der Bezug zur aktuellen Lage in Deutschland könnte nicht deutlicher sein. Zuvor wurden nur Andeutungen gemacht, dass das „blaue Wunder“ kommen würde. Im Spielzeitheft des Theater Paderborn wurde man bereits konkreter: Neben den Informationen zu „Andorra“ werden in einer Grafik die Wahlergebnisse der NSDAP 1928 und 1932 sowie der AfD 2013 und 2017 gegenübergestellt. Daneben die Nennung von etwa sechs Millionen Toten während des Holocaust und die von 681 antisemitischen Straftaten im ersten Halbjahr 2017 in Deutschland. Die AfD stellte daraufhin eine Anzeige wegen Verleumdung.
Aber im zweiten Teil des Abends geht es nicht um eine konkrete Partei, sondern um die gesamte Gesellschaft. Die „Schwarzen“ sind in Andorra eingefallen und die Bürger müssen zu einer Judenschau. Die Andorraner hätten nichts zu befürchten und noch geben sie sich dieser Illusion hin. Neben einem roten Glitzerkostüm trägt die weibliche Judenschauerin den Kopf eines Deutschen Schäferhundes. Eine weitere Anspielung auf Deutschland war wohl noch nötig. Dieser Auftritt passt nicht zu der sonst stimmigen Inszenierung. Die Andorraner zeigen auf Andri und er wird mitgenommen. Die Proteste seines Vaters und seiner Ziehmutter sind zwecklos und alle anderen schweigen. Wo am Anfang noch zu viele Worte waren, will nun niemand mehr etwas sagen. Doch eine ganze Gemeinschaft hat sich mitschuldig gemacht. An diesem Abend wird einmal mehr deutlich, wie aktuell Frischs Drama ist. Und wie wichtig, dass es gezeigt wird.
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